18.10.2023 -
In einem aktuellen Beschluss des LAG Mecklenburg-Vorpommern verlangte der Betriebsrat die Durchführung der Betriebsvereinbarung, während sich der Arbeitgeber auf die Sperrwirkung berief.
Betriebsvereinbarungen können durch einen Tarifvertrag nach § 77 Abs. 3 BetrVG gesperrt werden (credits: adobestock).

Das Gestaltungsinstrument der Betriebspartner ist bekanntlich die Betriebsvereinbarung. Dazu regelt § 77 BetrVG im Einzelnen die Voraussetzungen und Rechtsfolgen. In Betrieben, in denen Arbeitgeber tarifgebunden sind oder jedenfalls Tarifverträge anwenden, kommt es allerdings immer wieder zu Streit über die Frage, welche Regelungskompetenz ein Betriebsrat hat bzw. welche Regelungen in Betriebsvereinbarungen im Verhältnis zu dem bestehenden Tarifrecht zulässig sind. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei immer auf der sogenannten Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG von Tarifverträgen gegenüber Betriebsvereinbarungen. In einem aktuellen Beschluss des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern hatte der Arbeitgeber sich auf diese Sperrwirkung berufen (LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 13.12.2022, 5 TaBV 10/22). Der Betriebsrat hat umgekehrt die Durchführung der Betriebsvereinbarung verlangt. Wir möchten hier auf die Kernaspekte der Entscheidung hinweisen, wobei wir den speziellen Sachverhalt, der nicht von allgemeinem Interesse ist, nicht detailliert darstellen.

Der Fall (verkürzt):

Der Arbeitgeber ist ein Unternehmen im Bereich der Lebensmittelindustrie. Mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat er im Jahre 2019 einen Haustarifvertrag u.a. über die Gewährung von Samstagszuschlägen vereinbart. Zwischen den Betriebspartnern bestand dabei Streit über die Frage der Gewährung von Zuschlägen für Samstagsarbeit, insbesondere nach dem ebenfalls einschlägigen Manteltarifvertrag (MTV der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Mecklenburg-Vorpommern).

Im Folgenden unterzeichneten die Betriebspartner zusätzlich eine Betriebsvereinbarung zur Schichtplangestaltung. Regelungen zu Samstagszuschlägen fanden sich in dieser Betriebsvereinbarung nicht.

Der Arbeitgeber erklärte kurze Zeit später die Anfechtung der Betriebsvereinbarung. So seien die Verhandlungen mit der NGG über den Abschluss einer Tarifvereinbarung zum Vorziehen der 39-Stunden-Woche (von bislang 40) bei gleichzeitigem Wegfall der Samstagszuschläge endgültig gescheitert. Diese Tarifvereinbarung, die nun nicht zustande gekommen sei, sei aber für die Arbeitgeberseite Voraussetzung für den Abschluss der Betriebsvereinbarung gewesen.

Die Arbeitgeberin wendete daher im Folgenden die Betriebsvereinbarung nicht mehr vollständig an. Der Betriebsrat hat dazu die Auffassung vertreten, die Arbeitgeberin sei zur Durchführung der Betriebsvereinbarung nach § 77 Abs. 1 BetrVG verpflichtet. Die Betriebsvereinbarung sei auch nicht wegen Verstoß gegen die Sperrwirkung von Tarifverträgen, wie ebenfalls von der Arbeitgeberseite behauptet, nach § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam.

Das Arbeitsgericht hat die Auffassung des Betriebsrats bestätigt.

Die Entscheidung:

Im Beschwerdeverfahren hat sich auch das Landesarbeitsgericht der Ansicht des Arbeitsgerichts angeschlossen.

I. Durchführungsanspruch einer Betriebsvereinbarung

In der Praxis diskutieren die Betriebspartner und beteiligten Prozessvertreter häufig nur über die Unwirksamkeit von Betriebsvereinbarungen wegen Verstoß gegen die Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG. Dabei wird übersehen, dass dem Betriebsrat ein betriebsverfassungsrechtlicher Anspruch auf Durchführung der Betriebsvereinbarung nach § 77 Abs. 1 BetrVG zusteht. Dieser betriebsverfassungsrechtliche Anspruch ist dabei von den durch die Betriebsvereinbarung begründeten individualrechtlichen Ansprüchen zu unterscheiden. Diese individualrechtlichen Ansprüche kann der Betriebsrat gerade nicht im eigenen Namen geltend machen. Vielmehr hat ihm das Betriebsverfassungsrecht lediglich die Rolle eines gesetzlichen Prozessstandschafters zugewiesen. Dementsprechend darf der Individualrechtsschutz nicht auf das Verhältnis Arbeitgeber/Betriebsrat verlagert werden. Die Arbeitnehmer können also nicht die Kosten für die Geltendmachung ihrer Individualrechte durch Einschaltung des Betriebsrats in einem Verfahren nach § 77 Abs. 1 BetrVG auf den Arbeitgeber abwälzen. Entscheidend ist dabei stets, was der Betriebsrat konkret mit seinen Anträgen letztlich begehrt.

Hier begehrte der Betriebsrat mit seinen Anträgen die vollständige Durchführung der Betriebsvereinbarung. Dies hatte die Arbeitgeberseite abgelehnt. Zu diesem Zweck hatte der Betriebsrat mit seinen Anträgen verschiedene Regelungen der Betriebsvereinbarungen konkret herausgegriffen, die die Arbeitgeberseite gerade nicht im Hinblick auf die von ihr geltend gemachte Unwirksamkeit umgesetzt hat. Die Anträge des Betriebsrats zielten nicht darauf, Ansprüche einzelner Arbeitnehmer, die sie ansonsten selbst geltend machen müssten, durchzusetzen. Die Anträge bezogen sich auch nicht auf einzelne Arbeitnehmer und deren konkrete Forderungen, sondern betreffen jeweils bestimmte Teile der Belegschaft. Letztlich strebte der Betriebsrat hier mit seinem Durchführungsanspruch korrekt eine grundsätzliche Klärung an, dass der Arbeitgeber die Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung anzuwenden hat.

Hinweis für die Praxis:

Das Thema des Durchführungsanspruchs und die Frage, wer welche Ansprüche hat, wird in vielen Unternehmen durcheinandergebracht. Soweit Betriebsvereinbarungen konkrete Ansprüche zuweisen und der Arbeitgeber diese Ansprüche nicht gewährt, muss stets der einzelne Arbeitnehmer eine individualrechtliche Forderung geltend machen und ggf. auch einklagen. Der Betriebsrat ist dafür nicht zuständig. Das Kostenrisiko trägt dann ebenfalls der Arbeitnehmer. Eine Verlagerung von Kosten auf die Arbeitgeberseite ist insoweit unzulässig.

II. Sperrwirkung von Tarifverträgen

Die weitere Prüfung bezog sich auf die Sperrwirkung der einschlägigen Tarifverträge der NGG. Die Gerichte haben auch diese Sperrwirkung hier nicht angenommen. Die Betriebsvereinbarung war auch insoweit wirksam. Die Sperrwirkung ist in § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geregelt. Nach dieser Vorschrift können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen liegt immer dann vor, wenn sie in einem Tarifvertrag enthalten sind und der Betrieb in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrages fällt.

Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG dient der Sicherung der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie sowie der Erhaltung und Stärkung der Funktionsfähigkeit der Koalitionen. Sie soll verhindern, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrieren – und sei es inhaltsgleich – in Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Dementsprechend können die Betriebsparteien weder Bestimmungen über Tarifentgelte treffen noch über deren Höhe disponieren. Das gilt selbst dann, wenn die von ihnen getroffene Regelung für die Arbeitnehmer günstiger ist als diejenige der Tarifvertragsparteien. Eine solche Konkurrenz lag hier aber gerade nicht vor.

Fazit:

Die Thematik der Sperrwirkung von Tarifverträgen ist rechtlich äußerst komplex und kompliziert. Im Einzelfall muss stets geprüft werden, auf welcher Basis der Tarifvertrag gilt und aus welchem Grund eine Sperrwirkung in Betracht kommt. Dabei muss auch das Verhältnis von § 77 Abs. 3 BetrVG zu § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG beachtet werden und die vom Bundesarbeitsgericht hierzu entwickelte sogenannte Vorrangtheorie. Im Einzelfall müssen hier diese Fragen sorgfältig geprüft werden, um Rechtsnachteile zu vermeiden.

Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

Lorbeerkranz

Auszeichnungen

  • TOP-Wirtschafts­kanzlei für Arbeits­recht
    (FOCUS SPEZIAL 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Kanzlei für Arbeitsrecht
    (WirtschaftsWoche 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Anwältin für Arbeitsrecht: Ebba Herfs-Röttgen
    (WirtschaftsWoche, 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Anwalt für Arbeitsrecht: Prof. Dr. Nicolai Besgen
    (WirtschaftsWoche 2023, 2020)

Autor

Bild von Prof. Dr. Nicolai Besgen
Partner
Prof. Dr. Nicolai Besgen
  • Rechtsanwalt
  • Fachanwalt für Arbeitsrecht

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sprechblasen

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sind Sie unsicher, ob Sie mit Ihrer Angelegenheit bei uns richtig sind?
Nehmen Sie gerne unverbindlich Kontakt mit uns auf und schildern uns Ihr Anliegen.
Wir freuen uns auf Ihren Anruf.

Kontakt aufnehmen