OLG Frankfurt verschärft die Maßstäbe für Vorstände börsennotierter Aktiengesellschaften

Einleitung
Ein fehlender Satz im Halbjahresfinanzbericht kann Millionen kosten – und Vorstandsmitglieder persönlich haften lassen. Mit seinem Urteil vom 21. Oktober 2025 hat das OLG Frankfurt eine Entscheidung getroffen, die weit über den Einzelfall hinausreicht. Im Mittelpunkt steht der sogenannte Bilanzeid, eine oft unterschätzte Erklärung zur Rechnungslegung, und die Frage, ob ein gegen die Gesellschaft verhängtes Bußgeld im Innenverhältnis auf den Vorstand abgewälzt werden darf. Der Senat bejaht dies klar und grenzt sich damit deutlich gegen Stimmen in Literatur und Praxis ab, die einen Bußgeldregress aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen. Für Vorstandsmitglieder, Aufsichtsräte, Berater und D&O-Versicherer markiert das Urteil einen Wendepunkt: Publizitätspflichten werden zur persönlichen Haftungsfalle, und formale Versäumnisse können empfindliche finanzielle Folgen nach sich ziehen.
I. Sachverhalt
Die Klägerin ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft. Der Beklagte war im Jahr 2018 ihr alleiniges Vorstandsmitglied.
Am 16. August 2018 veröffentlichte die Gesellschaft den Halbjahresfinanzbericht für die ersten sechs Monate des Geschäftsjahres 2018. Dieser Bericht enthielt zwar einen verkürzten Abschluss und einen Zwischenlagebericht, nicht jedoch die gesetzlich vorgeschriebene Erklärung nach § 115 Abs. 2 WpHG i.V.m. § 264 Abs. 2 Satz 3 und § 289 Abs. 1 Satz 5 HGB, den sogenannten Bilanz- und Lageberichtseid (Bilanzeid).
Im Juni 2021 leitete die BaFin ein Ordnungswidrigkeitenverfahren ein und kündigte ein Bußgeld in Höhe von 900.000 € wegen eines Verstoßes gegen § 120 Abs. 12 Nr. 5 WpHG an. Die Gesellschaft informierte den Beklagten und forderte ihn zur Stellungnahme auf. Eine Reaktion erfolgte nicht.
Nach anwaltlicher Korrespondenz einigten sich BaFin und Gesellschaft auf ein reduziertes Bußgeld in Höhe von 290.000 € zuzüglich Gebühren und Auslagen (insgesamt 297.503,50 €). Die Gesellschaft zahlte den Betrag und nahm anschließend den ehemaligen Vorstand im Wege des Binnenregresses auf Schadensersatz in Anspruch.
Das Landgericht Frankfurt gab der Klage überwiegend statt. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten blieb vor dem OLG Frankfurt – bis auf eine geringfügige Zinskorrektur – erfolglos.
II. Rechtlicher Rahmen und Entscheidungsgründe
Zentrale Normen der Entscheidung sind:
- § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG (Sorgfaltspflicht des Vorstands),
- § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG (Schadensersatzpflicht bei Pflichtverletzung),
- § 115 Abs. 2 WpHG (Inhalt des Halbjahresfinanzberichts),
- § 264 Abs. 2 Satz 3, § 289 Abs. 1 Satz 5 HGB (Versicherung zur Rechnungslegung),
- § 120 Abs. 12 Nr. 5 WpHG (Bußgeldtatbestand).
1. Der Bilanzeid: Inhalt und Bedeutung
Der Senat stellt klar, dass es sich beim Bilanzeid nicht um eine bloße Förmelei, sondern um einen wesentlichen Bestandteil der kapitalmarktrechtlichen Berichterstattung handelt. Die Abgabe des Bilanzeids stellt eine an das Vorstandsmitglied adressierte höchstpersönliche Verpflichtung dar.
Durch den Bilanzeid erklärt das Vorstandsmitglied, dass der Bericht nach eigener sorgfältiger Prüfung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Ziel ist der Schutz des Anlegervertrauens und die Sicherstellung verlässlicher Kapitalmarktinformationen. Eine Delegation dieser Pflicht auf Mitarbeiter, externe Dienstleister, Wirtschaftsprüfer oder den Aufsichtsrat ist ausgeschlossen.
2. Pflichtverletzung nach § 93 Abs. 1 AktG
Das OLG Frankfurt bejaht eine klare Pflichtverletzung: Durch die Nichtabgabe des Bilanzeids hat der Beklagte nicht die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewendet.
Entscheidend ist, dass der Beklagte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung alleiniger Vorstand war. Das Übersehen des fehlenden Bilanzeids – selbst bei Einschaltung mehrerer Kontrollinstanzen – entlastet ihn nicht.
Das Gericht geht von fahrlässigem Verhalten aus. Nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG wird das Verschulden vermutet. Der Beklagte konnte diese Vermutung nicht widerlegen.
3. Schaden und Kausalität
Das gegen die Gesellschaft verhängte und gezahlte Bußgeld stellt nach Auffassung des Senats einen ersatzfähigen Vermögensschaden dar. Die Pflichtverletzung war auch kausal für den Schaden. Die BaFin leitete das Verfahren ausschließlich wegen des fehlenden Bilanzeids ein. Dass das Bußgeld im Verhandlungswege reduziert wurde, unterbricht die Kausalität nicht.
4. Regressfähigkeit der Verbandsgeldbuße
Der zentrale Teil der Entscheidung betrifft die Frage, ob eine gegen die Gesellschaft verhängte Geldbuße nach § 93 Abs. 2 AktG auf den Vorstand regressiert werden kann. Das OLG Frankfurt bejaht dies ausdrücklich: „Der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ist unter Berücksichtigung der bußgeldrechtlichen Regelungen nicht einzuschränken.“
5. Keine teleologische Reduktion
Der Senat setzt sich ausführlich mit entgegenstehenden Auffassungen auseinander, insbesondere aus dem Kartellrecht, und verneint eine teleologische Reduktion des § 93 AktG:
- Weder Wortlaut noch Gesetzesmaterialien enthalten einen Ausschluss.
- Das Ordnungswidrigkeitenrecht und das Zivilrecht seien getrennte, gleichrangige Regelungssysteme.
- Der Straf- und Präventionscharakter der Verbandsgeldbuße stehe dem Regress nicht entgegen.
Unter Bezugnahme auf die aktuelle Rechtsprechung des BGH (Beschluss vom 11.02.2025 – KZR 74/23 – Kommentierung auf dieser Homepage) stellt der Senat klar, dass staatliche Sanktionen zivilrechtlich abgewälzt werden dürfen, sofern die allgemeinen Haftungsvoraussetzungen erfüllt sind.
6. Keine Doppelbestrafung
Der Regress stelle keine staatliche Sanktion, sondern reinen Schadensersatz dar. Auch Art. 103 Abs. 3 GG („ne bis in idem“) sei nicht verletzt.
7. Keine Haftungsbegrenzung
Eine Begrenzung des Regresses:
- aus Fürsorgepflichten der Gesellschaft,
- wegen existenzbedrohender Wirkung,
- oder aufgrund bußgeldrechtlicher Zumessungskriterien
lehnt das Gericht ab. Besonders hervorgehoben wird die Rolle der D&O-Versicherung. Besteht Versicherungsschutz, bestehe kein Anlass, den Haftungsumfang zu reduzieren.
8. Ersatz von Rechtsverfolgungskosten
Auch die im Zusammenhang mit dem Bußgeldverfahren entstandenen Anwaltskosten sind grundsätzlich ersatzfähig, soweit sie erforderlich und zweckmäßig waren. Das OLG bestätigt dies im Wesentlichen.
III. Praktische Relevanz und Einordnung
Für Vorstandsmitglieder und Aufsichtsräte
- Der Bilanzeid ist eine persönliche Kernpflicht.
- Formale Fehler können Bußgelder und persönliche Haftung auslösen.
- Interne Compliance-Strukturen ersetzen keine persönliche Kontrolle.
- Prüfung der Vollständigkeit von Finanzberichten gewinnt an Gewicht.
- Regressrisiken müssen frühzeitig adressiert werden.
Für alle, die einen Bilanzeid abgeben
Der Bilanzeid ist kein bloßes „Unterschriftenritual“, sondern eine haftungsauslösende Erklärung mit erheblicher Tragweite.
Fazit
Ein fehlender Bilanzeid ist keine Lappalie. Er begründet eine Pflichtverletzung nach § 93 AktG, kann ein erhebliches Bußgeld auslösen und dessen vollen Regress auf das Vorstandsmitglied rechtfertigen. Bußgeldrecht und Zivilrecht bleiben strikt getrennt. Für Vorstände bedeutet dies: Publizitätspflichten sind persönliche Haftungsrisiken – auch ohne vorsätzliches Fehlverhalten.
Autor: RA & StB Andreas Jahn
Auszeichnungen
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„MEYER-KÖRING ist besonders renommiert für die gesellschaftsrechtliche Beratung.“(JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2022)
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