FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2025 – 8 K 626/24

Wenn Finanzämter Grundsteuerwerte allein anhand pauschaler Bodenrichtwerte festsetzen, kann das gerade bei teilweise nicht bebaubaren Grundstücken zu massiven Überbewertungen führen. Steuerpflichtige stehen dann vor der Frage: Lohnt sich der kostenintensive Nachweis durch ein Verkehrswertgutachten – und wer trägt die Kosten, wenn das Gutachten erst im finanzgerichtlichen Verfahren vorgelegt wird?
Der Beschluss des FG Baden-Württemberg vom 16.10.2025 (8 K 626/24) gibt darauf eine klare Antwort und stärkt den effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG. Der Senat zeigt: Eine pauschale Kostenabwälzung auf den Steuerpflichtigen ist keineswegs zwingend. Bei offenkundigen Bewertungsfehlernkann das Finanzamt zur Kostentragung verpflichtet sein.
I. Sachverhalt
Der Kläger ist Eigentümer eines 4.013 qm großen bebauten Grundstücks, dessen Fläche nach einem städtebaulichen Vertrag aus dem Jahr 2005 teils als bebaubare Fläche (2.064 qm) und teils als nicht bebaubare private Grünfläche (1.949 qm) ausgewiesen ist. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Vertragstext und dem entsprechenden Bebauungsplan, der u. a. Pflanzgebote und Erhaltungsgebote für Obstbäume vorsieht.
Trotz dieser öffentlich-rechtlichen Festsetzungen setzte das Finanzamt (FA) im Grundsteuerwertbescheid zum 01.01.2022 den Wert für die gesamte Grundstücksfläche anhand des pauschalen Bodenrichtwerts von 150 €/qm fest und gelangte zu einem Grundsteuerwert von 601.900 €. Der Grundsteuermessbetrag wurde entsprechend auf 547,73 € festgesetzt.
Der Kläger legte Einspruch ein und legte u. a. den städtebaulichen Vertrag und Luftbilder vor. Aus seiner Sicht war eine erhebliche Überbewertung offensichtlich, da die nicht bebaubare Fläche nur als Streuobstwiese genutzt werden durfte. Das FA wies den Einspruch jedoch zurück: Der Bodenrichtwert von 150 €/qm sei verbindlich, ein Wertabschlag ohne qualifiziertes Gutachten nicht möglich. Schon hier verwies das FA auf die Möglichkeit eines Verkehrswertgutachtens gemäß § 38 Abs. 4 LGrStG BW (Landesgrundsteuergesetzt Baden-Württemberg).
Der Kläger erhob Klage und regte an, dass das Gericht selbst ein Gutachten einhole; der Berichterstatter lehnte dies mit Hinweis auf § 38 Abs. 4 LGrStG und die Bodenrichtwertbindung ab. Daraufhin beauftragte der Kläger – erst im finanzgerichtlichen Verfahren – den Gutachterausschuss mit der Erstellung eines Verkehrswertgutachtens.
Das Gutachten vom 15.05.2025 gelangte zu einem Verkehrswert des Grund und Bodens von 355.000 €, weil die nicht bebaubare Teilfläche nur mit 15 €/qm bewertet wurde. Das FA erkannte das Gutachten vollumfänglich an und änderte den Grundsteuerwert sowie den Grundsteuermessbetrag entsprechend. Beide Parteien erklärten daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Streitpunkt blieb allein: Wer trägt die Kosten des Verfahrens und des Gutachtens (1.514,28 €)?
Der Kläger beantragte Kostentragung durch das FA; das FA berief sich auf die Nachweispflicht des Klägers nach § 38 Abs. 4 LGrStG BW und auf § 137 S. 1 FGO.
II. Die Entscheidung des FG Baden-Württemberg
Das Gericht formulierte drei offizielle Leitsätze, u. a.:
„Auch wenn der Steuerpflichtige das Gutachten bereits während des Verwaltungsverfahrens einholen hätte können und sollen, entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens dem Finanzamt aufzuerlegen, wenn (…) der vom Finanzamt zunächst angesetzte Grundsteuerwert zu einer erheblichen Überbewertung geführt hätte und die (…) eingeschränkte Bebaubarkeit (…) schon während des Verwaltungsverfahrens offenkundig war.“
Und besonders bedeutsam für die Praxis:
„Es erscheint (…) nicht ermessensgerecht, wenn aus der Nachweispflicht nach § 38 Abs. 4 LGrStG stets und automatisch eine Pflicht zur Tragung der Kosten (…) folgen würde, (…) die geeignet wäre, den Steuerpflichtigen (…) dazu zu bewegen, eine Überbewertung (…) hinzunehmen.“
Da die Parteien den Streit für erledigt erklärt hatten, richtete sich die Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO („billiges Ermessen“). Das FG stellte fest, dass es nach summarischer Prüfung bei einer Entscheidung über die Hauptsache dem Kläger Recht gegeben hätte. Denn der ursprüngliche Grundsteuerwert von 601.900 € beruhte auf einer erheblichen und offenkundigen Überbewertung, weil die nicht bebaubare Fläche unstreitig nur als private Grünfläche ausgewiesen war.
Offenkundigkeit der eingeschränkten Bebaubarkeit
Die eingeschränkte Bebaubarkeit war aus Bebauungsplan, städtebaulichem Vertrag und Pflanzgeboten eindeutig und ohne weiteres erkennbar. Das Gericht bemerkt ausdrücklich: Eine Überprüfung durch das Finanzamt hätte sich bereits im Verwaltungsverfahren aufgedrängt.
Verfassungsrechtliche Erwägungen – effektiver Rechtsschutz
Das FG begründet seine Entscheidung auf einer verfassungsrechtlichen Ebene:
- Die Nachweispflicht des Steuerpflichtigen aus § 38 Abs. 4 LGrStG darf nicht automatisch zu einer Pflicht zur Kostentragung nach § 137 FGO führen.
- Ansonsten könnten Bürger aus Angst vor Gutachtenkosten davon abgehalten werden, Überbewertungen anzufechten.
Dies wäre unvereinbar mit: Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz) und Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz).
Das FG betont, das FA ist zwar grundsätzlich an Bodenrichtwerte gebunden, aber nicht ausnahmslos. Gerade bei stark abweichender Nutzungsart (z. B. Grünflächen, Schutzgebiete) können differenzierende Bodenrichtwertzonen erforderlich sein.
III. Besonderheiten und praktische Relevanz
- Die späte Vorlage eines Gutachtens führt nicht automatisch dazu, dass der Steuerpflichtige die Kosten tragen muss.
- Wenn die Überbewertung aufgrund behördlich überprüfbarer Informationen (hier: Bebauungsplan) erkennbar war, kann der Steuerpflichtige nicht zu den Kosten gezwungen werden.
- Grundsteuerpflichtige sollen nicht davor zurückschrecken müssen, Bewertungsfehler durch Gutachten zu korrigieren.
- Gutachterausschüsse müssen differenzierte Bodenrichtwerte ausweisen. Der Senat kritisiert, dass andere Ausschüsse bereits differenzieren (z. B. Grünflächenwerte), wodurch Gutachten entbehrlich würden.
Fazit
Auch wenn die Entscheidung lediglich zum LGrStG BW ergangen ist, stärkt Beschluss des FG Baden-Württemberg stärkt auch landesübergreifend die Position der Steuerpflichtigen im neuen Grundsteuerrecht. Selbst wenn ein Verkehrswertgutachten erst im finanzgerichtlichen Verfahren eingeholt wird, können die Kosten dem Finanzamt auferlegt werden – insbesondere dann, wenn die Überbewertung auf offenkundigen Umständen beruht, die das FA bereits im Verwaltungsverfahren hätte erkennen können. Das Urteil zeigt deutlich: Die Nachweispflicht (hier nach § 38 Abs. 4 LGrStG) darf nicht zu einer faktischen Hürde für effektiven Rechtsschutz werden. Für die Praxis bedeutet dies: Bei erheblichen Abweichungen vom tatsächlichen Wert lohnt sich der Rechtsweg – und die Kosten des Gutachtens müssen nicht zwingend beim Steuerpflichtigen verbleiben.
Autor: RA & StB Andreas Jahn
Auszeichnungen
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„Häufig empfohlen wird Andreas Jahn, Steuerrecht.“(JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2017-2024)
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