BFH klärt: Wann beginnt die Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer, wenn ein Testament erst Jahre nach dem Tod des Erblassers gefunden wird?
Kann die Erbschaftsteuer noch geändert werden, wenn Jahre später ein bislang unbekanntes Testament auftaucht? (credit:adobestock)

Wenn Jahre nach einem Erbfall plötzlich ein bislang unbekanntes Testament auftaucht, steht nicht nur die Erbfolge, sondern oft auch die Steuerfestsetzung auf dem Prüfstand. Kann dann überhaupt noch Erbschaftsteuer festgesetzt werden?

Wann beginnt und endet in einem solchen Fall die Festsetzungsfrist? Das Gesetz sagt, für die Erbschaftsteuer beginnt die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat. Aber ab welchem Ereignis hat ein Erwerber diese Kenntnis? Kommt es auf den Tod des Erblassers, die Erteilung eines (ersten) Erbscheins, die Eröffnung des (ersten) Testaments oder noch spätere Zeitpunkte an?

Mit seinem am 30.10.2025 veröffentlichten Urteil vom 04.06.2025 (II R 28/22) hat der BFH diese praxisrelevante Frage präzisiert. Das Urteil klärt, ab welchem Zeitpunkt ein testamentarisch eingesetzter Erbe „sichere Kenntnis“ im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO von seinem Erwerb hat – insbesondere, wenn ein anderer (potentieller) Erbe den Anspruch bestreitet.

I. Sachverhalt

Die Entscheidung betrifft einen komplexen Erbfall mit zwei Testamenten und einer jahrzehntelangen steuerlichen Nachwirkung, weshalb die Datumsangaben hier hervorgehoben sind:

Die Erblasserin war im November 1988 verstorben. Sie hatte zunächst mit Testament vom 21.06.1983 ihren Neffen (den Kläger) und dessen Schwester zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt. Später errichtete sie ein weiteres Testament am 11.08.1988, in dem sie den Kläger zum Alleinerben bestimmte.

Da die Testamente beim Tod nicht bekannt waren, erteilte das Nachlassgericht am 05.01.1989 einen Erbschein, der den Kläger und seine Schwester als gesetzliche Erben zu je ½ auswies. Auf dieser Grundlage setzte das Finanzamt mit bestandskräftigem Bescheid vom 05.07.1994 Erbschaftsteuer fest – unter der Annahme einer hälftigen Erbquote.

Erst im Mai 2003 legte der Kläger dem Nachlassgericht das Testament vom 11.08.1988 vor. Seine Schwester bestritt jedoch dessen Wirksamkeit unter Hinweis auf angebliche Testierunfähigkeit der Erblasserin. Nach langem Rechtsstreit kündigte das Nachlassgericht mit Beschluss vom 27.09.2007 an, den Erbschein zugunsten des Klägers zu erteilen. Die hiergegen gerichteten Beschwerden seiner Schwester blieben erfolglos; am 07.10.2009 erhielt der Kläger schließlich den Erbschein als Alleinerbe.

Daraufhin erließ das Finanzamt am 22.09.2010 einen Änderungsbescheid und setzte Erbschaftsteuer entsprechend dem Alleinerwerb fest. Der Kläger wehrte sich dagegen mit dem Argument, die Festsetzungsfrist, die für die Erbschaftsteuer regelmäßig vier Jahre beträgt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO), sei bereits abgelaufen. Er habe bereits 1989 mit der Erteilung des Erbscheins Kenntnis gehabt, jedenfalls aber 2003 mit dem Auffinden des Testaments. Das spätere Wiederaufleben der Anlaufhemmung sei gesetzlich nicht vorgesehen.

Das Finanzgericht Düsseldorf (Urteil vom 29.06.2022, 4 K 896/20 Erb) folgte dieser Argumentation nicht und wies die Klage ab. Hiergegen legte der Kläger Revision ein.

II. Entscheidungsgründe des BFH

Der BFH wies die Revision zurück – allerdings mit differenzierter Begründung.

Die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO gilt für „den jeweiligen Erwerb aufgrund eines bestimmten Rechtsgrunds“. Die einmal erlangte Kenntnis verbraucht die Anlaufhemmung nur im Hinblick auf diesen konkreten Rechtsgrund des Erwerbs. Wird später ein neues Testament aufgefunden, liegt ein neuer Rechtsgrund vor – und damit eine neue Anlaufhemmung.

„Ein aufgefundenes späteres rechtsgültiges Testament […] bildet einen neuen Rechtsgrund für den Erwerb des Erben, sodass dieser für die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO maßgeblich ist.“

Damit betont der BFH, dass für den Beginn der Festsetzungsfrist nicht irgendeine Kenntnis von einem (möglichen) Erwerb ausreicht, sondern die Kenntnis des tatsächlich rechtlich wirksamen Erwerbs – also desjenigen, der der Besteuerung zugrunde liegt.

Bei streitiger Erbenstellung:

Der BFH stellt zudem klar: Wenn ein anderer möglicher Erbe der Erteilung des Erbscheins entgegentritt, ist maßgebender Zeitpunkt, zu dem ein testamentarisch eingesetzter Erbe sichere Kenntnis im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO von seiner Erbeinsetzung hat, ist der Zeitpunkt einer Entscheidung des Nachlassgerichts über die Wirksamkeit des Testaments im Erbscheinverfahren.

Damit genügt die bloße Kenntnis vom Auffinden oder Inhalt eines Testaments nicht. Solange Zweifel über dessen Wirksamkeit bestehen – etwa durch Streit zwischen potenziellen Erben – beginnt die Festsetzungsfrist nicht zu laufen. Erst die gerichtliche Entscheidung im Erbscheinverfahren beseitigt die Ungewissheit.

Selbst wenn die Entscheidung noch anfechtbar ist oder tatsächlich angefochten wird, hindert dies den Fristbeginn nicht:

Beginn und Ablauf der Frist im konkreten Fall

Nach diesen Maßstäben begann die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres 2007, da der Kläger im September 2007 durch den Vorbescheid des Nachlassgerichts erstmals sichere Kenntnis vom rechtsgültigen Erwerb als Alleinerbe erlangte. Die vierjährige Frist endete somit Ende 2011, sodass der Änderungsbescheid vom 22.09.2010 rechtzeitig erging.

III. Praktische Bedeutung

Das Urteil ist im Fall nachträglich aufgefundener Testamente von Bedeutung.

  • Neue Frist bei neuem Rechtsgrund: Wird ein bislang unbekanntes Testament entdeckt, beginnt die Festsetzungsfrist neu zu laufen, selbst wenn zuvor bereits ein Erbschaftsteuerbescheid nach gesetzlicher Erbfolge ergangen war.
  • Der Zweck des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO besteht darin, den Steueranspruch auch dann zu sichern, wenn ein Erbe erst Jahre später Kenntnis von seiner tatsächlichen Erbenstellung erhält. Diese Schutzwirkung für den Steueranspruch greift auch bei später aufgefundenen Testamenten.
  • Bei der Bearbeitung von Nachlassfällen mit ungeklärter Erbfolge oder neu aufgefundenen Testamenten setzt der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Erbscheinverfahren den Lauf der Festsetzungsfrist in Gang.

Erben dürfen einerseits nicht auf eine Festsetzungsverjährung vertrauen und müssen andererseits vice versa eine fehlerhaft zu ihren Lasten erfolgte Festsetzung nicht dulden, wenn Jahre nach dem Erbfall ein neues Testament auftaucht, das ihre Erbenstellung wesentlich verändert.

Fazit:

Für die steuerliche Praxis bedeutet dies: Neue Testamente = neuer Fristbeginn. Damit schützt der BFH den Steueranspruch des Fiskus und sorgt zugleich für einheitliche und nachvollziehbare Regeln im Zusammenspiel von Erbrecht und Steuerrecht.

Autor: Andreas Jahn

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