
I. Sachverhalt
Im zugrundeliegenden Verfahren vor dem Finanzgericht Münster (Urteil vom 02.04.2025 – 14 K 654/23 E) stritten die Beteiligten über die zulässige Bemessung der Abschreibung für Abnutzung (AfA) eines vermieteten Mehrfamilienhauses im Jahr 2020.
Der Kläger hatte im Februar 2020 ein bebautes Grundstück in C für 310.000 € erworben. Die Eintragung des Klägers als Eigentümer des Grundstücks im Grundbuch erfolgte am 27.03.2020. Das Gebäude, ein 1963 errichtetes Mehrfamilienhaus mit vier Wohneinheiten und einer Gesamtwohnfläche von 213 m², wurde ab dem 01.01.2020 vermietet, obwohl der Besitzübergang vertraglich an die Zahlung des Kaufpreises gekoppelt war. Der Kläger erklärte für das Objekt Mieteinnahmen ab Januar 2020 und machte in seiner Steuererklärung eine AfA in Höhe von 5.919,25 € geltend.
Das Finanzamt kürzte die AfA sowohl wegen eines aus seiner Sicht späteren Besitzübergangs als auch wegen einer geringeren Bemessungsgrundlage. Letztlich legte es nur 5.176 € als AfA an. Der Kläger legte Einspruch ein und reichte später – erstmals im Klageverfahren – ein Gutachten eines Sachverständigen ein, das eine deutlich kürzere tatsächliche Restnutzungsdauer von 23 Jahren (statt der typisierten 50 Jahre) ausweist. Daraus ergäbe sich eine jährliche Abschreibung in Höhe von 4,35 % der Bemessungsgrundlage und damit für 2020 (ab März) eine AfA in Höhe von 9.652 €.
Das Finanzamt hielt das Gutachten nicht für ausreichend, unter anderem weil:
- kein Ortstermin stattfand,
- der Sachverständige keine in Deutschland anerkannte Akkreditierung nach DIN EN ISO/IEC 17024 habe,
- die verwendete Methode (ImmoWertV-Modell) nicht geeignet sei,
- ältere Modernisierungen unberücksichtigt geblieben seien.
II. Entscheidungsgründe des FG Münster
1. Maßstab der Abschreibung anhand der tatsächlichen Nutzungsdauer
Das Gericht stellte zunächst klar, dass dem Steuerpflichtigen gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG ein Wahlrecht zusteht, die tatsächliche Nutzungsdauer anstelle der typisierten 50 Jahre anzusetzen. Voraussetzung ist jedoch ein Einzelnachweis durch sachverständige Schätzung, wobei es auf die „größtmögliche Wahrscheinlichkeit“ ankomme:
„Die Nutzungsdauer ist zu schätzen. Eine solche Schätzung verlangt nach allgemeinen Grundsätzen keine Gewissheit, sondern vielmehr nur größtmögliche Wahrscheinlichkeit.“
Nach der Rechtsprechung des BFH kann sich der Steuerpflichtige zur Darlegung einer kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer jeder sachverständigen Methode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises geeignet erscheint. Die gewählte Methode muss über die maßgeblichen Determinanten der Nutzungsdauer – zum Beispiel technischer Verschleiß, wirtschaftliche Entwertung, rechtliche Nutzungsbeschränkungen – Aufschluss geben. Es würde die Feststellungslast des Steuerpflichtigen überspannt, wenn der Schätzung eine bestimmte Gutachtenmethodik (zum Beispiel Bausubstanzgutachten) oder ein bestimmtes Ermittlungsverfahren zwingend zugrunde liegen müsste. Demzufolge hat der BFH ausdrücklich anerkannt, dass auch eine Gutachtenmethode, durch die die Restnutzungsdauer eines Gebäudes modellhaft wirtschaftlich bestimmt wird, als Nachweis für die Inanspruchnahme des § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG genügen kann.
2. Geeignetheit des Gutachtens
Das Gericht erkannte das Gutachten somit als ausreichenden Nachweis an, obwohl es modellhaft erstellt wurde und ursprünglich kein Ortstermin stattgefunden hatte:
„Der BFH hat ausdrücklich anerkannt, dass auch eine Gutachtenmethode, durch die die Restnutzungsdauer eines Gebäudes modellhaft wirtschaftlich bestimmt wird, als Nachweis […] genügen kann.“
Das Gutachten stützte sich auf das Modell zur Ermittlung der Restnutzungsdauer gemäß Anlage 2 zu § 12 Abs. 5 Satz 1 ImmoWertV und berücksichtigte individuell durchgeführte (oder unterlassene) Modernisierungen über ein Punktesystem („Punkteraster-Verfahren“).
„Da sich das Gutachten nach der Rechtsprechung des BFH nicht zu sämtlichen für die Restnutzungsdauer maßgeblichen Determinanten verhalten muss, ist auch unschädlich, dass der Sachverständige im Gutachten im Wesentlichen auf die wirtschaftliche Restnutzungsdauer abgestellt hat.“
Die Sanierungsarbeiten aus dem Jahr 1993 wurden bewusst nicht berücksichtigt, da sie mehr als 25 Jahre zurücklagen und keine für das Modell erheblichen Verbesserungen nachgewiesen wurden.
3. Zertifizierung des Gutachters
Das Finanzgericht stellte klar, dass das Einkommensteuerrecht keine formellen Anforderungen an eine bestimmte Zertifizierungsstelle stellt. Eine Zertifizierung nach DIN EN ISO/IEC 17024 ist nicht zwingend erforderlich:
„Dem Gesetz […] lassen sich solche formellen Anforderungen nicht entnehmen.“
Selbst wenn die Zertifizierungsstelle nicht von der niederländischen Akkreditierungsbehörde anerkannt sei, sei der Sachverständige dennoch qualifiziert – u.a. durch IHK- und TÜV-Zertifizierungen.
4. Ortstermin
Das Gericht neigt zwar grundsätzlich zur Notwendigkeit einer persönlichen Besichtigung durch den Gutachter. Im vorliegenden Fall wurde dieser Mangel jedoch durch einen nachträglich durchgeführten Ortstermin geheilt, bei dem keine neuen Erkenntnisse gewonnen wurden.
III. Einordnung und Auswirkungen
Die Entscheidung hat erhebliche praktische Relevanz, insbesondere für Vermieter und Investoren, die ältere Gebäude mit Modernisierungsbedarf erwerben. Der steuerlich vorteilhafte Ansatz einer kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer eröffnet signifikante Abschreibungspotenziale – auch ohne öffentlich bestellten und vereidigten Gutachter.
Das FG Münster setzt sich explizit von den restriktiven Anforderungen der Finanzverwaltung (BMF-Schreiben vom 22.02.2023) ab, insbesondere in Bezug auf:
- die notwendige Form der Gutachtenerstellung,
- die geforderte Qualifikation der Sachverständigen,
- die (angebliche) Unerheblichkeit modellhafter Verfahren.
Steuerberater können nun mit größerer Rechtssicherheit auch modellbasierte Gutachten nach ImmoWertV zur Argumentation einer kürzeren AfA-Grundlage einsetzen. Die Entscheidung hebt hervor, dass der Fokus auf der sachlichen Qualität und Plausibilität des Gutachtens liegt. Formale Merkmale wie die Akkreditierung oder der ‚Status‘ des Gutachters sind dagegen nicht ausschlaggebend.
IV. Fazit
Die Entscheidung des FG Münster bestätigt: Auch ein modellhaftes Gutachten ohne formelle Zertifizierung und mit nachgeholtem Ortstermin kann zur Begründung einer verkürzten Restnutzungsdauer und damit einer höheren AfA ausreichend sein.
- AfA kann über ein individuell erstelltes Gutachten auf eine kürzere Nutzungsdauer angepasst werden.
- Ein Gutachten, das sich auf das Modell zur Ermittlung der Restnutzungsdauer gemäß der ImmoWertV stützt, kann als Nachweis einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG geeignet sein.
- Die Anforderungen des BMF-Schreibens sind nicht bindend.
- Die formelle Qualifikation eines Gutachters – etwa Zertifizierung nach DIN EN ISO/IEC 17024 – ist für die Anerkennung eines Gutachtens steuerrechtlich nicht zwingend erforderlich.
- Eine fehlende Ortsbesichtigung kann ausnahmsweise durch einen nachträglichen Ortstermin geheilt werden.
- Auch wirtschaftliche Kriterien (nicht nur technischer Verschleiß) sind relevant.
Autor: RA & StB Andreas Jahn
Auszeichnungen
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„Häufig empfohlen wird Andreas Jahn, Steuerrecht.“(JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2017-2024)
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